Teil 1: Ausnahmezeit
Persönliche Geschichten
Die eigenen Gefühle auf Papier geschehen lassen – es entstehen Geschichten. So formuliert es Roman Peter im Katalog zu seiner Ausstellung, die den Titel ‚Persönliches‘ trägt, und er setzt diese Geschichten in Bilder um. Das Gleiche lässt sich für Mrs Miller sagen: Sie setzt eigene Gefühle, Gedanken, Beobachtungen in Geschichten um.
Sie handeln vom Älterwerden. Vom Pendeln. Von Brunnenfiguren, die lebendig werden. Von Mr. Murakami und der Schriftstellerei. Von ihr selbst als Mrs Miller, Schriftstellerin.
Mrs Millers öffnet uns einen Innenraum.
Hier gibt es Stille und Zeit fürs Betrachten und Nachdenken, fürs Erinnern und Träumen.
So können sich neue, überraschende Zusammenhänge ergeben, die in Bildern und in Sprache fassbar, vermittelbar und verstehbar werden.
Die Zeit wird mehrschichtig, fächert sich auf in Alltagszeit, Ausnahmezeit, Auszeit, Zeitlosigkeit. Wir müssen die Zeit aushalten, ausnützen, ausloten, austricksen, aushebeln. Dann können sich Fenster und Türe öffnen in die Freiheit, ganz bei sich zu sein.
Dann werden wir durchlässig für Geschichten.
Es sind alltägliche Situationen, die solche Erfahrungen ermöglichen. Das Zugfahren im Intercity. Ein Spaziergang am Waldrand. Das Warten in einer Arztpraxis. Wir alle haben unsere eigenen Geschichten dazu zu erzählen, eigene Bilder im Kopf und könnten diese mit unseren Mitteln umsetzen. Roman Peter und Mrs Miller tun dies auf ihre je eigene Weise.
Wartezeit
Der Zufall will es, wundert sich Mrs Miller, dass Roman Peter 2015 ein Bild ‚Wartezimmer‘ malte und ihre eigene aktuelle Geschichte vom April 2020 den Titel ‚Wartezone‘ trägt.
Zeitlich auseinanderliegende, individuell unterschiedliche Erfahrungen, die am gleichen Ort zusammenfinden.
Beim Warten in einer Klinik oder Praxis. Der Zeit ausgeliefert. Mit sich selbst beschäftigt, mit den eigenen Gefühlen: Ängsten, Hoffnungen. Mit den anderen Menschen im Warteraum auf Zeit verbunden.
Roman Peters „Im Wartezimmer“

Der Text ist tröstlich, findet Mrs Miller, er vermittelt Geborgenheit und steht im Gegensatz zum Bild, dessen heftiges Rot Vereinzelung, Erschrecken, Angst signalisiert.
Wie kann man sich in einem Wartezimmer zu Hause fühlen?, fragt sie sich erstaunt. Mrs Miller sitzt in einem anderen Wartezimmer. Zu einer anderen Zeit. Aus anderen Gründen. Und vor einem anderen Bild von Roman Peter, das an der gegenüber liegenden Wand hängt.

Wie kommt es, dass es hier in ihrem Wartezimmer hängt?, fragt sich Mrs Miller und wundert sich wieder über das Spiel des Zufalls, ohne weiter auf das Bild zu achten. Sie kommt nicht deswegen, sondern zur Behandlung ihrer Augen hierher.
Mrs Miller wird wegen Corona von einem Tag zum andern zu einer Risikogruppe gerechnet, die nichts mit ihrem Augenleiden zu tun hat: die der Alten. Noch fühlt sie sich nicht so. Noch trennen sie Jahre vom wirklichen Alter, ist sie sich gewiss. Corona und das Warten im Wartezimmer löschen sie aus.
Seit Corona hat das Warten eine andere Dimension: Die Ausnahmezeit ist jetzt viel weiter gerahmt als die Zeit des Wartens.
Wie kann es gelingen, in dieser aus der Zeit geschnittenen Zeit zu Geborgenheit und Gelassenheit zu finden?, fragt sich Mrs Miller. Wird es gar geschehen, ein abenteuerlicher Gedanke, aus dieser Wartezeit verjüngt und gestärkt hervorgehen?
Mrs Millers „Wartezone“: Text hier lesen
Teil 2: Auszeit
Die coronabedingte Ausnahmezeit beeinflusst unseren Alltag. Wir sind fremdbestimmt, wir müssen uns anpassen, aufpassen. Sei es in einem Wartezimmer oder beim Einkaufen, beim Reisen, bei Besuchen.
Anders die Auszeit. Diese können wir uns nehmen. Nutzen, wenn sie sich ergibt. Hier sind wir die, die bestimmen. Sie kann sich bisweilen im Alltag auftun. Als Pause, als Moment für sich allein. Zum Beispiel beim Pendeln.
Pendelzeit

Gedanken unterwegs
Ich hüte mich vor einer zu direkten Begegnung mit meinem Spiegelbild, in dem mein Gesicht müde wirkt und voller Schatten. Als wir aus dem Tunnel kommen, erstrecken sich die Felder bis weit an den Horizont. Da erkenne ich mein in der Scheibe gespiegeltes Gesicht wieder, und die Welt dahinter bewegt sich durch mich hindurch.
Im nebligen Dämmerlicht des Morgens wachsen aus meinem Kopf Bäume, Häuser durchqueren meine Stirn, und Lichter ziehen Striche über meine Wangen.
Geheimnisse verbergen sich im Zwielicht dieser Zwischenwelten. Hier entwische ich in freie Zeit und ihre Räume der Wildnis.
Und bin plötzlich anderswo wirklich, wo ich keine Gründe brauche und keiner fremden Logik folgen muss. Ich lasse die andern hinter mir, die weiterreisen, so wie ich selbst es gewöhnlich auch tue, immer zur gleichen Zeit auf der gleichen Strecke. Ich jedoch werde leicht. Spüre hell, blau, fast angstlos das Gleichgewicht und befinde mich ganz bei mir selbst.
Jetzt bin ich durchlässig und empfindsam für Geschichten.

Eine Stunde morgens, eine Stunde abends . Nicht mehr zu Hause. Oder nicht mehr am Arbeiten. Im Zug zwischen Basel und Bern. Oder zwischen Bern und Basel.
Unterwegs im Dazwischen.
20 Jahre lang war ich Pendlerin. Mehr als 5’000 Stunden habe ich im Intercity verbracht. Meistens ist nichts passiert.
Verlorene Zeit?
Es bleiben ein paar Geschichten.
Une petite histoire d’amour
Nebenan sitzen zwei Frauen, von denen eine am Nähen ist und französisch spricht.
Reden, ja natürlich, in welcher Sprache auch immer, wenn auch morgens etwas mühsam für alle anderen. Auch lesen, tippen, essen, trinken, dösen, schminken sind Tätigkeiten in einem frühen Pendlerzug. Doch nähen?
– Ah oui, sagte die Näherin, eine Dame mit Perlenkette über der weissen Bluse, die dabei war, mit Nadel und Faden eine Naht ihres Mantels zu flicken, der mit dem seidigen Futter nach oben auf ihren Knien lag.
Die andere Frau mit dunklem Haar und einem langen eleganten Hals nickte zustimmend.
– Ce qui me touche dans cette histoire, fuhr die leise Stimme der Näherin fort, c’est qu’elle n’est pas libre de choisir.
– Keine Wahl zu haben, das habe ich immer zu vermeiden versucht, meinte ihre Begleiterin.
– Und ist es dir gelungen?
– Nicht wirklich, antwortete sie.
– Ah oui, les hommes, wiederholte die Frau mit Nadel und Faden, ohne mit dem Nähen aufzuhören.

Versöhnt
Die Frau, die sich in Olten neben mich setzte, störte, natürlich störte sie, denn alle, die schon seit Basel allein oder zu zweit schräg gegenüber in einem Abteil gewesen waren und nun bei diesem Halt, wo sich in Olten wie immer alle Plätze füllten, ihre Mappen, Taschen und Jacken auf die Knie nehmen mussten, störte es, weniger Platz zu haben und Unbekannte so nahe neben sich zu spüren, dass man sich unwillkürlich immer wieder berührte.
Die Frau fragte knapp, ob der Platz frei sei, fordernd und aggressiv, denn sie spürte wohl die Abneigung, die ihr entgegenschlug und die, wie ich zugegeben hätte, ungerecht war. Auch die ausholende Art störte mich, wie sie ihren Mantel auszog, und die Unruhe, mit der sie sich einrichtete, die Tasche öffnete und schloss, und auf einem dieser kurzen freien Streckenabschnitte aus einem Tunnel kommend sich plötzlich vorbeugte, um zum Fenster hinauszublicken.
Jetzt war sie ganz Schauen und Staunen, und da liess ich die Zeitung sinken und folgte ihrem Blick, erblickte den glühenden Sonnenfächer hinter der fernen Hügelkette und die beleuchteten Wolkenbänder mit den feuerrot gleissenden Rändern. Ohne sie hätte ich diesen Sonnenaufgang verpasst.
Im nächsten Moment fuhr der Zug bereits wieder in einen Tunnel.
– Brauchen Sie Ihre Zeitung noch?, fragte die Frau, als wir wieder ins Helle gelangten, und ich sagte, nein, nehmen Sie sie nur.
– Danke, sagte sie.
– Gern geschehen, antwortete ich.
Tausende von Pendelstunden. In der Erinnerung verfliessen sie zu einem undefinierbaren Gefühl von Zeitlosigkeit. Manchmal deuteten sich Geschichten an.
Es ist diese Art von Unterwegssein, diese Zwischenzeit zwischen Familie und Berufstätigkeit, die dazu führten, dass eines Tages Mrs Miller Wirklichkeit wurde.
An jenem Tag wich ich für einmal von der Routine ab und ging nicht auf direktem Weg nach Hause. So kam ich an die Murakami-Haltestelle und begann von da an, mich als Mrs Miller, Schriftstellerin, zu verstehen – und darüber gleich ein neues Buch zu schreiben:

Noch nicht einmal eineinhalb Jahre ist es her seit meinem persönlichen Ruhestand und noch nicht einmal ein halbes Jahr seit dem schweizweiten Stillstand, den Corona verursachte. Die Bahnhöfe waren ausgestorben, die Pendlerzüge blieben leer.
Ich bin keine Pendlerin mehr. Schon nach dieser kurzen Zeit kann ich mir nicht mehr vorstellen, dass es wieder anders, normal wie vorher, sein könnte. Dass ich mich noch einreihen könnte in den Strom der Pendelnden. Die Rituale, ungeschriebenen Regeln noch kennen würde.

3. Teil: Zeitlosigkeit
Manchmal können wir der Zeit entfliehen. Entfliegen.

In der Stille zwischen zwei vollen Stunden öffnen sich Zeitlosigkeit und Freiheit. Darum geht es im Brunnentanz, einer Erzählung, in der nicht Mrs Miller in der Hauptrolle spielt, sondern Marie-Ange, eine zum Leben erwachte Brunnenfigur:
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DANKE
