Mrs Miller schob ihren Einkaufswagen auf das Rollband, das ins UG des Einkaufszentrums Schlemmerland führte. Wenn sie an die vielen Expats dachte, die hier gerne einkauften, weil das Sortiment sehr breit und speziell auch auf sie abgestimmt war, wunderte sie sich über diesen Namen und fragte sich, wie er wohl auf Englisch oder Französisch ausgesprochen würde.
Schlemmerland, Schlummerland, Lummerland, Lümmelland. Auf solche Wortspiele kam sie, weil sie auf dem Rollband nichts tun musste, nicht einmal den Einkaufswagen festhalten, dessen Räder eingehakt waren.
Sie fuhr auf der linken Seite abwärts, und die, die aufwärts kamen, kreuzten sie rechts. Es kam sehr selten vor, dass man sich beim Kreuzen kannte und es war auch kein Moment, um einen Kontakt zu suchen, höchstens kurz mit dem Blick. Man fuhr stumm und regungslos aneinander vorbei, das war normal.
Bis sie unten war, dauerte es ein Weilchen.
Mrs Miller spürte einen Schmerz im Kreuz, die Folge einer falschen Bewegung heute Morgen beim Duschen.
Mrs Miller verspürte den Drang, schneller voranzukomen, was unmöglich war mit einem auf einem Rollband eingehakten Einkaufwagen. Sie ärgerte sich, viel zu übertrieben in dieser Situation, über die Einschränkung ihrer Automonie. Und darüber, dass sie wegen einer Tube Senf diesen Weg auf sich nehmen musste. Sie fragte sich, wie wohl frische Luft dort unten hereinkam und ob die Lüftung alle Viren absaugte.
Mrs Miller wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Nachdem der plötzliche Ärger verflogen war, fühlte sie sich geschwächt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie war froh, bald einen Termin bei Frau Pia zu bekommen, und wartete auf einen Vorschlag.
Frau Pia war nicht riesig, sondern von normaler, wenn auch kräftiger Statur. Was besonders war: Sie hatte riesige Kräfte. Sie kannte die Energiewege durch den Körper und konnte die verhockten Stellen befreien, so dass man selbst wieder zu Kräften kam. Frau Pia war Kraftrepariererin, ein seltsames Wesen unter den Riesinnen.
Mrs Miller kam unten an und musste sich wieder auf ihren Einkauf konzentrieren. Der Schwächemoment war vorbei, alles nahm seinen gewohnten Gang. Sie kannte die Gänge hier und wusste meistens, wo was zu finden war. Sie wusste meistens auch wieder, wo sie ihren Einkaufswagen stehen gelassen hatte, um etwas zu holen.
Nun war sie mit ihrem Einkaufswagen vor dem Gestell mit den Tuben angelangt. Sie suchte nach dem scharfen Senf in der roten Tube. Es gab scharfen Senf in einer weissen Tube, halbscharfen Senf, milden Senf, grobkörnigen oder mit Honig vermischten Senf, Senf mit Thymian, mit Estragon, mit Meerettich. Nur den Senf in der roten Tube, den sie immer kaufte, konnte sie nirgends sehen, vielleicht hatte sie ihn übersehen, sie ging von oben nach unten nach einmal alle Regale durch, doch wieder nichts.
Wieder fühlte sie diese Schwäche nahen, als leichten Schwindel vor all dem Überfluss. Da klingelte ihr Mobiltelefon in der Tasche, die sie über der Schulter trug. Sie erschrak ein bisschen, normalerweise gab es hier unten keinen Empfang. Weil an diesem Vormittag wenig Leute beim Einkaufen waren und sie in einem Seitengang stand, der zwar eng, aber menschenleer war, wollte sie den Anruf entgegennehmen, auch wenn sie sonst in der Öffentlichkeit keine Telefongespräche führte. Möglich war ja, wenn auch noch nie vorgekommen, dass es ihr Mann war, dem noch etwas eingefallen war, was sie mitbringen sollte.
Es war nicht ihr Mann, es war Lukas.
– Hallo, Mrs Miller. Wie wäre es mit heute 14 Uhr oder 16 Uhr oder 17 Uhr 10. Oder morgen um 9 Uhr 30 oder 11 Uhr 15?
Es war ein Rauschen in der Leitung und seine Stimme klang metallen wie eine Durchsage, aber sehr freundlich und ruhig.
– Hallo Lukas, danke für Ihre Terminvorschläge. Haben Sie einen Moment Zeit, damit ich es mir überlegen und dann entscheiden kann?
– Kein Problem, Mrs Miller, ich bleibe solange in der Leitung, lassen Sie sich nur Zeit. Ich fahre gerade in den Tunnel und muss jetzt 20 Minuten selbst nichts tun, ich kann mich weitgehend auf die Technik verlassen.
Lukas arbeitete als Lokomotivführer und verwaltete nebenher die Termine für seine Frau Pia.
Mrs Miller war froh, dass sie die Airpads mitgenommen hatte, und steckte sie sich jetzt in die Ohren. Das Rauschen war weiterhin in der Verbindung und sie vermeinte einen Signalton zu vernehmen und fast kam es ihr vor, als höre sie auch den Atem von Lukas. So hatte die Hände wieder frei, das Handy steckte in ihrer Tasche, sie konnte ihren Einkaufswagen zur Seite schieben, als jetzt doch eine andere Frau mit ihrem Wagen kam und nach einer Tube suchte, ihre dann aber schnell fand und gleich weiterging.
Mrs Miller tat so, als suche sie weiterhin ihren Senf, doch in Wirklichkeit stand sie einfach nur da, überliess sich dem Rauschen, bald klang es wie Meeresrauschen, und von irgendwoher kam ein frischer Duft nach Thymian, das Licht liess den Sandstrand senffarben aufleuchten, über den Himmel kamen Honigwölkchen und der Kopf wurde offen und weit.
Nachdem 3 Minuten oder 5, bestimmt aber noch nicht 20 Minuten vergangen waren, sagte sie:
– Sind Sie noch da, Lukas? Der Termin heute um 14 Uhr bei Frau Pia passt mir gut.
Seine Antwort war klar und deutlich trotz dieses Rauschens, das im Hintergrund noch immer zu hören war.
– Okay. Ist notiert.
Erstaunlich, dass die Verbindung im Tunnel nicht unterbrochen worden war.
– Danke, dass Sie Geduld hatten und warteten.
– Ich habe nicht gewartet, Mrs Miller, wir sind gut vorangekommen.
– Aber ich kann am gleichen Ort wieder aussteigen, wo ich eingestiegen bin?
– Sicher, Mrs Miller. Auf Wiedersehen.
Tatsächlich stand sie vor demselben Gestell mit den Senftuben.
Mrs Miller suchte nicht länger nach dem roten Senf, nahm einen Dijonsenf in der weissen Tube und fuhr mit dem Rollband nach oben. Als sei es wie zuvor, obwohl sie sich ganz anders fühlte, leichter und fröhlicher, ein Moment der Grenzenlosigkeit hatte genügt. Sie war versucht, den Termin bei Frau Pia wieder abzusagen. Doch sie hatte jetzt keinen Kontakt mehr zu Lukas, dem Lokomotivführer.