Die Stühle stehen weit auseinander und es ist still. Aber schon vorher, in der Zeit, als sie noch direkt nebeneinander stehen durften, redete niemand. Es las auch niemand, obwohl auf dem Tischchen in der Mitte viele Zeitschriften und die Tageszeitung lagen. Inzwischen jedoch sind sie aus Hygienegründen verschwunden.
Auch Mobiltelefone werden kaum je angeschaut, schon gar nicht in sie hineingesprochen. Das liegt jedoch an der Altersgruppe der Menschen, die hier wartet. Sie benutzt ein Mobiltelefon nur im Notfall und dies ist jetzt keiner, sondern der Normalfall für uns, die wir regelmässig hierher kommen.
Der Notfall findet draussen statt. Dort lauert jene fremde Gefahr, der alle ausgesetzt sind, nicht nur wir in unserem Alter. Eine unsichtbare, allgegenwärtige Möglichkeit sich mit einem neuartigen Virus, der die Lungen angreift, anzustecken.
Wir fünf in der Wartezone sind mit unseren Augen nicht ansteckend. Unser Leiden betrifft nur uns selbst, jede und jeden Einzelnen hier, und gerade deshalb sind wir miteinander verbunden, auch wenn äusserlich die Abstände grösser geworden sind. Wir sind ungefährlich, wenn auch gefährdet, und werden deshalb besonders geschützt. Die Schutzmassnahmen sind streng, Gesichtsmasken und das Desinfizieren der Hände obligatorisch.
Auch ich lese nicht, jedenfalls nicht in diesem Moment. Aber ich könnte noch lesen und Gesichter erkennen. Vorher waren Gesichter als Ganzes sichtbar, heute sieht man sie auch mit gesunden Augen nur noch halb, die andere Hälfte ist verdeckt von den Gesichtsmasken, die wir alle tragen müssen, nicht nur die Ärzte beim Operieren.
Natürlich könnte ich aufstehen, sogar weggehen, wenn es schliesslich doch zu lange dauern und ich die Geduld verlieren sollte. Aber ich bin nicht gekommen, um unverrichteter Dinge wieder zu verschwinden. Damit würde ich nur mir selbst schaden.
Sie sind noch jung!, hatte der Arzt gesagt, es lohnt sich! Ich kann froh sein, hier sein zu dürfen, besonders in diesen Zeiten, wo alle verschiebbaren Behandlungen ausgesetzt und nur die absolut notwendigen erlaubt sind.
Darum sitze ich also notwendigerweise auf diesem Stuhl, vor einem Bild an der gegenüber liegenden, hellblau gestrichenen Wand, das viele Geschichten zu erzählen hätte für die Zeit des Wartens, die ich zusammen mit anderen Menschen verbringe, die auch viele Geschichten zu erzählen hätten.
Ich halte die erforderliche Distanz ein und werde keinen Kontakt herstellen, keine Frage an meine Sitznachbarin oder meinen Sitznachbar richten, so wie ich es vorher bisweilen aus Neugier gemacht habe, ich werde mich auf keine anderen Geschichte einlassen. Wir sitzen nun zu weit auseinander, wir müssten zu laut reden, wir könnten nichts Persönliches sagen, wir würden wegen der Masken vor dem Mund Mühe haben uns zu verstehen.
Würden wir miteinander reden, wären wir uns einig. Wir können uns glücklich schätzen, dass es diese Medikamente und Kliniken gibt. Das ist nicht selbstverständlich, nicht überall auf der Welt, nicht wie früher, wo es nichts dagegen gab. Und schon gar nicht in der jetzigen Zeit, wo es in allererster Linie darum geht, das Atmen zu bewahren, und nicht darum, Augen oder auch Ohren, Hände oder Hüften zu behandeln. Wir sind froh und dankbar, das würden wir alle hier sagen, um unsere privilegierte Situation, um die Schutzmittel und Hygienestandards.
Wenn ich meinen Name höre, hat das Warten ein Ende. Meine Aufmerksamkeit ist ganz auf meinen Namen gerichtet, alles andere ist unwichtig.
Selbst die Zeit spielt keine Rolle in diesem Zustand. Erst wenn ich gegen die Zeit zu rebellieren beginne, wird sie zum Feind. Warum habe ich eine Krankheit, die Alte trifft, diese andern hier, die alle zur Generation meiner Eltern gehören. Ich bin doch noch jung, 20 Jahre jünger. Für sie ist es normal, aber doch nicht für mich.
Wenn man so hadert, ist man ist verloren. Wir alle sind dann verloren, denn gegen die Zeit kann niemand bestehen, nur in ihr.
Die andern, die wie ich hier warten, sind weiter in der Zeit als ich. Ich, die Junge unter den Alten, werde in 20 Jahren in ihrem Alter aller Voraussicht nach noch immer auf einem solchen Stuhl warten müssen, einmal im Monat, das ist der Preis, so jung zu sein. Für sie, die Alten, gab es in meinem Alter dieses Medikament noch nicht. Ob sie deswegen jetzt in ihrem Alter heute schlechter sehen als ich in 20 Jahren in ihrem Alter, kann niemand voraussehen.
Irgendwann ist es dann jedes Mal soweit. Mein Name wird aufgerufen, ich bin wieder ich, eine Frau mit Namen, ich kann aufstehen. Ich bin an der Reihe. Und freue mich, so jung zu sein unter den Alten, die nach mir dran sind.