Schlimm, schlimmer, am schlimmsten

Schlimm, dass wir das noch immer brauchen, sagte ich zu der jungen Frau, die mich bediente.
Sie trug wie ich eine Maske gegen das Virus. Jetzt, Mitte März 2022, war die Zahl der Angesteckten so hoch wie nie zuvor in den letzten zwei Jahren der Pandemie. Ich wollte mir in der Apotheke wieder neue Schnelltests holen als Reserve. Unsere letzte 8-er Packung hatten mein Mann und ich aufgebraucht. Wir waren in diesem Winter häufig erkältet gewesen, eine schlimme Zeit, aber richtig schlimm war es für uns nie gewesen, denn wir waren beide gut geschützt.

Ich dachte, das ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe, sagte die Apothekerin, und jetzt ist es noch viel schlimmer.
Sie meinte den Krieg in der Ukraine.
Ich schalte alles aus, keine Tagesschau, keine Nachrichten, sagte sie.
Und ich ertrage es kaum mehr, morgens die Zeitung zu lesen, sagte ich.
Wir blickten uns eine Weile an, beide bekamen wir feuchte Augen.

Zuhause waren mein Mann und ich uns einig, dass es gehen würde im zunehmenden Notfall. Denn es gab zu den verstörenden Nachrichten und Bildern in der Zeitung zunehmend auch Menschen aus der Ukraine, die zu uns kamen, geflüchtet aus der Hölle des Krieges. Sie brauchten eine Zuflucht. Da mussten wir doch helfen.
Wir müssten einfach mehr zusammenrücken, sagten wir zueinander.
Wir könnten ihnen sogar eine abgetrennte Wohnung in unserem Haus anbieten, die eingerichtet war für die gelegentlichen Besuche des jüngeren Sohnes. Das Zusammensein mit der Familie war für uns das Wichtigste.

Darum warteten wir ab, bis auf Weiteres, im Wissen, dass wir Reserven hatten für den Fall, dass es noch schlimmer würde.

Und wenn dann eine Frau käme wie die aus der Zeitung heute morgen?
Es könnte ja auch eine andere sein, eine, die besser zu uns passt. Nicht wie sie. In der Ukraine war sie Gefängniswärterin gewesen, entnahm ich der Bildunterschrift.
Darf man wünschen, wer einem ins eigene Haus zugeteilt wird? Könnte ich sie abweisen, nur weil sie Gefängniswärterin ist?

Und wenn sie ungeimpft wäre und es hier auch nicht ändern will, vorgibt, nicht zu verstehen. Vorgibt, nicht zu verstehen, auch nachdem sie schon Monate oder gar ein Jahr hier wäre, wie man mit dem Bus ins Einkaufszentrum fährt, um ein Medikament in der Apotheke zu holen oder Lebensmittel einzukaufen, und darum ich fahren muss, wieder einmal. Ich habe ja ein Auto und Geld und verstehe die Sprache, die hier gesprochen wird.

Wie Viren drangen solche Gedanken und Ängste in mich ein. Mein schlechtes Gewissen war geweckt und feuerte aus dem Dunkeln immer wieder neue gedankliche Ungeheuerlichkeiten ab, die mich mies fühlen liessen, auch wenn die wirklichen Ungeheuerlichkeiten des Krieges, vor denen die Menschen flohen mit nichts als dem nackten Leben, viel schlimmer waren, und es mir nur um mich und meine Gefühle ging.

Die Seite mit dem Bild der Ukrainerin hatte ich aus der Zeitung gerissen und zusammengefaltet auf den Tisch gelegt. Als ich abends den Artikel dazu las, erfuhr ich, dass ihr Mann Bauleiter war, sie gut verdient hatten, ihr älterer Sohn nicht hatte ausreisen dürfen, weil er schon 19 war, genauso wenig wie ihr Mann, der im Krieg kämpfte. Sie selbst konnte flüchten, zusammen mit dem jüngeren Sohn, und war hier von einem Ehepaar aufgenommen worden, in deren Zweizimmerwohnung, das eine Zimmer konnte sie gemeinsam mit ihrem 17-jährigen Sohn bewohnen.

Die Gastgeberin war Flötistin in einem Kammerorchester.
Künstlerin, Gefängniswärterin, für sie spielte das in dieser Situation keine Rolle.
Wir haben Platz genug, sagte sie, wir sind tagsüber oft nicht zu Hause, wir teilen uns die Küche, aber haben ein Bad und eine separate Dusche.

Weiss man denn, wie lange sie bleiben, bleiben müssen, ein paar Monate, ein Jahr lang?
Keine Ahnung. Bis auf Weiteres, sagte der Gastgeber.
Ohne wenn und aber.
Wieder fühlte ich mich elend, als ich an den vielen leeren Platz in unserem eigenen Haus dachte.

Ich faltete die Zeitung zusammen, eins ums andere Mal. Und jedes Mal waren ein Abschnitt des Artikels und ein Teil der Frau nicht mehr sichtbar und es wurde mir zunehmend leichter zumute. Ich faltete alles weg, auch meine Vorurteile, Befürchtungen, mein Gut-Mensch-Pflichtgefühl und meine Abwehr, bis schliesslich auf dem mehrfach gefalteten Zeitungsausschnitt nur noch das Gesicht der fremden Frau übrig blieb.

Der Krieg hat sich Einlass verschafft in meinen Kopf, erklärte ich ihr. Der Krieg ist viel schlimmer als Corona, nicht wahr?

Wenn ich an meine Heimat denke, kommen mir die Tränen, glaubte ich sie antworten zu hören. Ich bin froh, hier zu sein, aber ich will hier nicht bleiben. Ich will so schnell wie möglich wieder zurück. Es ist schlimm, ja. Am schlimmsten war, meinen Mann und den älteren Sohn zurückzulassen. Das ist das Schlimmste, was ich je in meinem Leben erlebt habe.

Mir kamen die Tränen und ich faltete auch noch den unteren Teil ihres Gesichts mit der Nase und dem Mund weg, der schwieg. Jetzt sah sie aus, als würde sie eine Maske tragen, so wie alle Fremden, denen ich seit zwei Jahren begegnete. Und unter der hellen Stirn blieben nur noch ihre Augen. Ich schaute sie lange an.

Dass das, was das Schlimmste für sie war, auch für mich das Schlimmste wäre, schuf in diesem Augenblick eine Gemeinsamkeit zwischen uns, die mich ruhig werden liess.

Endlich legte ich die Zeitung beiseite und auch die Nachrichten am Fernsehen schaltete ich heute nicht mehr ein. Den Abend verbrachte ich mit meinem Mann allein und im Frieden.