Rote Geranien mit grünen Blättern, die im Sommer bei uns überall in Kistchen auf Fenstersimsen stehen, sind nichts Aussergewöhnliches.
Es gibt kaum mehr jemanden, der in einer ungeheizten Waschküche Geranien den Winter über ans Fenster stellt und hin und wieder giesst, damit sie nicht austrocknen. Die meisten lassen sie draussen und werfen sie im Frühling verdorrt oder verfroren in den Abfall und kaufen in der Gartenabteilung des Supermarkts wieder neue.
Aber nicht diesmal. Es gab keine Geranien zu kaufen weder im März noch im April. Sämtliche Gartencenter waren wegen des Virus geschlossen. Niemand wusste, ob es in der Pflanzsaison noch möglich würde, an Pflanzen heranzukommen. Nicht nur Geranien, auch Setzlinge von Tomaten, Gurken, Zucchettis und dergleichen gab es keine in den Läden. Das war natürlich schlimmer.
Ich war in einer glücklichen Lage. Privilegiert. Mit meiner Familie. Dem Garten. Mit meiner schönen Geranie. Vor dem Winter hatte ich sie an einen geschützten Ort gestellt, dann aber vergessen. Wie war ich überrascht, als ich im Topf, der von der Frühlingssonne beschienen wurde, hellgrüne Blätter mit zarten Stielen entdeckte. Das war Mitte März, am Tag, als der Lockdown begann.
Es kamen sehr warme Tage, die Natur stand in dieser Frühlingszeit, wo alles geschlossen, abgesagt, verschoben werden musste und alle zu Hause bleiben und Kontakte meiden mussten, in voller Blüte und in dichtem Duft. Bei meiner Lockdown-Geranie, wie ich sie von da an nannte, trieb schon bald eine Knospe hervor, die im Mai aufs Schönste blühte, im Innern in sattem Rot, zu den Blütenrändern hin in leuchtendem Pink, was mit den grünen satten Blättern aufs Beste kontrastierte.
Dort, wo ich im Herbst dürre Ranken deponiert hatte, wuchsen wilde Tomaten, mehrjährig Gewürze trieben aus. Je weniger draussen noch möglich und erhältlich war, desto mehr stieg die Bedeutung dessen, was mir zur Verfügung stand, eine einzigartige Fülle. Mir ging es so viel besser als den andern, die in diesem Jahr zu keinen Pflanzensetzlingen gekommen waren. Die Beschränkungen des Lockdowns machten meinen Reichtum umso deutlicher.
Gemüse und Früchte gab es wie immer im Supermarkt oder in Hofläden zu kaufen, niemand musste Salat, Karotten oder Kartoffeln selbst anpflanzen. Für diejenigen, die es trotzdem tun wollten und sich auch blühende Blumenkistchen wünschten, war es Hobby. Sie machten es nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Freude.
Im allerletzten Moment wurden die Vorschriften gelockert. Mit grossen Sicherheitsvorkehrungen wurden im Mai auch wieder nicht lebensnotwendige Dinge verkauft. Vor dem Eingang des Supermarkts standen Kistchen an Kistchen mit Geranien. Alle sahen sie gleich aus mit identisch roten Blüten und grün leuchtenden Blättern, alle gleich hoch mit gleich vielen Blüten. Es war das erste Mal seit zwei Monaten, dass ich selbst wieder einkaufen konnte, aber ich traute mich noch nicht in den Laden, blieb davor stehen um zu beobachten, wie ich mich zu verhalten hatte. Die Frau, die wie ich wartete, war mir viel zu nahe, kam es mir vor, warum konnte sie sich nicht ein bisschen weiter entfernt hinstellen.
Mein Ärger breitete sich aus, über die Geranien hinweg. Mit Geringschätzung versprühte ich mein Gift über ihre roten Köpfe. Wahrlich keine Kunst, so wie ihr zu werden, schimpfte ich im Stillen, mit all dem Dünger und der Energieverschwendung fürs Heizen und Transportieren. Ihr seid in Gewächshäusern aufgepuscht worden. Die Maske, die ich zum ersten Mal trug, rutschte mir über beinahe in die Augen, ich war sehr ärgerlich und verängstigt und verunsichert, gab zwar diesen armen Geranien keine direkte Schuld daran, aber sie störten mich ungemein.
Aber sie wurden in kurzer Zeit alle verkauft. Überall waren sie von da an zu sehen. Meine wurde eine von vielen. Sie verlor für mich an Wert. Ich beachtete sie kaum mehr. Geranien sind widerstandfähig, blühen den ganzen Sommer über, anspruchslose Pflanzen, wird von ihnen gesagt, und mit ihrem Rot und Grün vor blauem Himmel ein fröhlicher Anblick. Bis weit in den Herbst hinein. Erst in Frostnächten und langen Regenstunden leiden sie Schaden. Sie altern nicht schön, wie andere Pflanzen, die sich herbstlich verfärben und noch einmal herausputzen. Sie werden einfach unscheinbar, bis man vergisst, sie zu schützen, wenn es anfängt zu gefrieren.
Es ging schnell, dass mir vieles wieder normal vorkam. Dass ich mir eine Maske umband, die nicht mehr so leicht verrutschte. Dass ich vor dem Betreten eines Ladengeschäfts die Hände desinfizierte. Dass ich den Liftknopf mit dem Ärmel über dem Daumen drückte.
Meine Geranie hatte noch im Oktober drei Blüten, die genauso leuchteten wie die erste. Jetzt, wo ich genauer hinschaute, bemerkte ich im Blüteninnern einen coronaförmigen Kranz aus feinen, weissen Strichen. Ich schämte mich ein wenig, wenn ich an meine Reaktion vor dem Gartencenter dachte. Wie hatte ich mich nicht für andere freuen können, die jetzt so wie ich eine Geranie zu Hause haben würden? Es stand der erste Winter bevor mit den all den neuen Gefahren und vielleicht war er eisiger als der letzte, einsamer, angstvoller. Nie hätte ich gedacht, dass es für mich eines Tages wichtig sein könnte dafür zu sorgen, dass eine Geranie überwintert.
Doch im Frühling würde ich mir, sobald Geranien angeboten wurden, trotzdem im Gartencenter eine dazukaufen. Da war ich mir inzwischen sicher, ja ich hoffte es geradezu,. Das hatte nichts mit meiner Geranie zu tun. Sondern mit dem Namen, den ich ihr gegeben hatte. Ich hoffte, dass sie dann ohne Lockdown-Zusatz auskommen konnte und Geranien nichts Aussergewöhnliches mehr bedeuteten.