Das Hütchen meiner Mutter

Es ist halt der Ansatz, sagte meine Mutter am Telefon. Jetzt sei er deutlich zu sehen. Sie müsse ihn alle fünf bis sechs Wochen färben, bei dunklem Haar sei das zwingend notwendig.

Sie hat natürlich kein dunkles Haar mehr. Doch es gehört zu ihr. Niemand weiss, wie sie mit ihrem natürlichen Haar aussehen würde. Es macht mich zehn Jahre älter, sagt sie.

Sie trage jetzt beim Spazieren ein Hütchen. Ein trauriger Anblick, die geschlossene Pizzeria am See, die leeren Strassen. Alle Coiffeurgeschäfte seien geschlossen. Wann kommst du wieder einmal zu mir?

Vor Reisen ins Tessin wurde wiederholt gewarnt, weil die Lage dort besonders schlimm war und man eine Überlastung des Gesundheitssystems befürchtete. Den Menschen über 65 wurde dringend empfohlen, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Das galt auch für mich in der Deutschschweiz, die jetzt altersmässig zur gleichen Risikogruppe zählte wie die Mutter im Tessin.

Anfangs Mai, an einem Samstag Abend gegen 21 Uhr, bekam ich einen Anruf mit Tessiner Vorwahl. Eine Frau, die zur örtlichen Spitex gehörte, informierte mich: Wir finden Ihre Mutter nicht, nicht zu Hause und auch nirgends im Quartier.

Eine halbe Stunde später meldete sie sich erneut. Die Mutter sei in die Notfallstation eingeliefert worden, mit einer Kopfwunde. Sie sei wohl beim Spazieren gestürzt. Zum Glück nicht schlimm, keine Gehirnerschütterung.

Sie habe die Berge angeschaut und da habe sie das Gleichgewicht verloren, erklärte sie. Warum kommst du mich nicht besuchen?

Die Coiffeurgeschäfte öffneten wieder. Für meine Mutter änderte dies nichts. Ihre Haare könne sie immer noch nicht färben. Wegen der Chemikalien. Und wegen der Narbe, die noch nicht verheilt sei. Sie würde, wenn sie hinausgehe, jetzt immer ihr Hütchen aufsetzen, aber drinnen könne sie es ja nicht tragen. Doch sei sie ja meist allein.

Sie habe Glück im Unglück gehabt, sagte ich, dass sie sich bei ihrem Sturz nicht eine Gehirnerschütterung zugezogen habe. Und dass sie nur gestürzt war und sich nicht angesteckt hatte, doch das behielt ich bei mir.

Ja, der Kopf, sagte sie. Seither vergesse sie mehr Dinge. Alles zu begreifen falle ihr jetzt schwerer, und sie brauche mehr Zeit dafür.

Du brauchst Zeit für die Erholung, beruhigte ich sie am Telefon, das ist normal. Was aussergewöhnlich ist, ist diese momentane Lage im Tessin, in der Schweiz, auf der ganzen Welt.

Warum willst du nicht mehr zu mir kommen?

Ich kann nicht, niemand soll reisen. Alle müssen Abstand halten.

Das ist traurig, sagte meine Mutter. Ich würde dir gerne wieder in die Augen blicken.

Im Juni erzählte sie, dass sie jetzt wieder spazieren gehe, aber nur noch mit dem Rollator. Ein Coiffeurbesuch sei immer noch nicht möglich, noch habe sie zwei Fäden drin. Bei der Wunde sei eine kahle Stelle und eine breite weisse Strähne. Furchtbar sieht das aus, sagte sie, auf einen Schlag älter geworden.

Über den Rollator beklagte sie sich erstaunlicherweise nie, obwohl sie damit bestimmt 10 Jahre älter aussah.

Am See sei die Osteria mit den Tischen unter den grossen Bäumen jetzt wieder offen.

Bald werde ich mit dir dort unter den Platanen und Kastanienbäumen sitzen, versprach ich. Ich habe jetzt auch ein Hütchen. Unsere grauen Haare werden nicht zu sehen sein, genauso wenig wie Wunden und Narben und kahle Stellen.

Zwei Wochen später, Mitte Juni, kam ihr Coiffeurtermin zustande. Die verletzliche Stelle wurde abgedeckt, als die Farbe aufgetragen wurde.

Kastanienbraun, meinte sie am Telefon, ich bin zufrieden. Jetzt bin ich wieder ich.

Ein gutes Omen: Wenn es mit der Haarfarbe klappte, dann bestimmt auch mit meinem Besuch.